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Russland Leben Bericht
Deutsch lernen in der schlimmsten Sowjetzeit
Nachruf auf Swetlana Geier ? ein Leben für Dostojewski
Redaktion: Jürg Vollmer / maiak.info
Eingestellt am  26.11.2010 Aktualitätsende 05.12.2010
Sie dürfen diesen Text mit Nennung des Autors und von maiak.info honorarfrei vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen.
Zürich/gc. Die Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier ist mit 87 Jahren verstorben. Die 1923 in Kiew geborene Swetlana Geier galt als eine der bedeutendsten Übersetzerinnen russischer Literatur ins Deutsche und setzte dabei mit ihren Dostojewski-Übersetzungen einen neuen Standard. Ein Nachruf auf die Grande Dame der Übersetzung.

Zeitreise durch die Welt- und Literaturgeschichte
Gespräche mit Swetlana Geier waren immer Zeitreisen durch die Welt- und Literaturgeschichte. Noch wenige Monate vor ihrem Tod am 7. November 2010 erzählte die 87-jährige Übersetzerin mit großer Leidenschaft von  Fjodor Dostojewskis großen Roman-Tragödien und  Lew Tolstois realistischen Romanen.

Genau so spannend wie die von ihr übersetzte Literatur war aber das unglaubliche (Über-)Leben von  Swetlana Geier, das sich sowohl zwischen Stalin und Hitler als auch zwischen Dostojewski und Goethe abgespielt hatte.

Deutsch lernen in der schlimmsten Sowjetzeit
Geboren wurde Swetlana Iwanowa – so lautete ihr Mädchenname – am 26. April 1923 in Kiew als Tochter russischer Eltern. Ihr Vater wurde 1937 während Stalins  großem Terror verhaftet, der im Russischen unpassend als Große Säuberung (Bolschaja Tschistka) bezeichnet wird. Diese „Säuberung“ forderte in drei Jahren über 700.000 Todesopfer und eine Million Menschen erwarteten in den Lagern des  Gulag ihren Tod.

Der Vater wurde ohne Anklage oder Gerichtsurteil nach 18 Monaten grausamer Folterungen als menschliches Wrack entlassen und starb ein halbes Jahr später, von der fünfzehnjährigen Swetlana bis zum letzten Tag gepflegt. „In diesen Irrungen und Wirrungen der Sowjetzeit lernte ich seit meinem fünften Geburtstag die deutsche Sprache, die meine Sprache wurde, in der ich sogar träume“, erzählte Swetlana Geier.

Von der Vorzeige-Studentin zur Kollaborateurin
Als im Juni 1941 der Vernichtungskrieg des  Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion begann, machte sie in Kiew gerade ihr Abitur mit einem „Goldenen Zeugnis“ – eine brillante Eins in allen Fächern. Trotzdem, oder gerade deswegen, musste Swetlana ihr frisch begonnenes Sprachstudium unterbrechen, um nach dem Einmarsch der Nazi-Truppen als Übersetzerin für die deutsche Baufirma zu arbeiten, die eine Eisenbahnbrücke über den  Dnjepr baute.

Im September 1941 massakrierte die deutsche  Wehrmacht in der Schlucht  Babi Jar einen Großteil der jüdischen Bevölkerung von Kiew. „Ich musste mehrere Tage lang dem Maschinengewehrfeuer zuhören, mit dem pro Tag über 15.000 Menschen hingerichtet wurden, darunter auch meine beste Schulfreundin Neta.“

Heute schätzt man, dass diesem systematischen Massenmord 200.000 Menschen zum Opfer fielen. Doch das Blatt wendete sich: Als Hitlers  VI. Armee 1943 in der  Schlacht von Stalingrad kapitulierte und sich der Untergang des Deutschen Reiches abzeichnete, wurde Swetlana für ihre Landsleute zur „Kollaborateurin“ und musste mit ihrer Mutter nach Deutschland flüchten. Aber auch dort wurden sie festgenommen und in ein Lager für „Ostarbeiter“ gesteckt, dem sie nur mit Hilfe von Freunden nach einem halben Jahr entkommen konnten.

Wie durch ein Wunder …

Während in Hitlers Deutschem Reich und in Stalins Sowjetunion die Soldateska wütete, wurde die deutsche und russische Literatur für Swetlana zur Hüterin der Wahrheit. „Sie entwickelte in dieser Zeit einen Blick für das Wesentliche: für Dichtung, die nicht mehr als Dichtung sein will, für die moralische Verantwortung des Menschen und für die Endlichkeit des Seins“, glaubt der Slawist Ulrich M. Schmid.

Wie durch ein Wunder erhielt Swetlana mitten im Deutschen Reich im letzten Kriegsjahr ein Stipendium und zog mit der Mutter nach Günterstal am südlichen Stadtrand von Freiburg im Breisgau, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Sie begann 1944 ein Studium der Literaturwissenschaft und vergleichenden Sprachwissenschaft an der Universität Freiburg, heiratete 1945 Christmut Geier (von dem sie sich 1963 trennte) und gründete eine Familie.

Von der ersten Übersetzung zur Ehrendoktorwürde
„Jeden Nachmittag bin ich mit meinen beiden Kindern direkt hinter dem Haus in den Wald gegangen, wo frisch gefällte Baumstämme lagen. Die Kinder spielten da und ich saß auf einem Baumstamm und übersetzte Texte. Weil ich keine Schreibmaschine hatte, tippte mir der Publizist Hans Daiber die Übersetzung ab – und schickte ohne mein Wissen eine Kopie an den Rowohlt Verlag.“

Der Verlag war begeistert und gab Swetlana Geier den ersten Auftrag für eine Übersetzungen. Seither übersetzte sie 38 Werke russischer Autoren. Neben diesen Übersetzungen blieb Swetlana Geier trotz Lehraufträgen an verschiedenen renommierten Universitäten immer der Universität Freiburg treu. Als Lektorin für Russisch prägte sie ganze Studenten-Generationen, weshalb sie 2007 die Ehrendoktorwürde erhielt.

Dostojewski ist der beste Leser Puschkins
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Swetlana Geier bekannt durch ihre genialen Übersetzungen von Dostojewskis Meisterwerken – den „fünf Elefanten“ mit insgesamt 5.000 Seiten Umfang – für den Zürcher Ammann Verlag:  „Verbrechen und Strafe“ (1994),  „Der Idiot“ (1996),  „Böse Geister“ (1998),  „Die Brüder Karamasow“ (2003) und „Ein grüner Junge“ (2006). Jeder Figur gab Swetlana Geier ihre ganz eigene Stimme, wie im Original.

Und ausgerechnet sie, die vielfach ausgezeichnete Dostojewski-Übersetzerin behauptete schmunzelnd, der bedeutendste russische Schriftsteller habe im Prinzip nur ein Buch geschrieben: „Er schreibt doch immer wieder über den gleichen Weg des Menschen zu einer Befreiung oder zu einer Freiheit. Wobei Dostojewski unter Freiheit nicht ein Erreichtes, sozusagen eine Art Bankkonto oder ein Billet versteht. Die Freiheit ist für Dostojewski etwas Punktuelles, genauso wie der Glaube.“

Bewusst provozierte Swetlana Geier im Gespräch, bezeichnete Dostojewskis Porträts zum Beispiel als „außerordentlich naiv“ und schilderte ihn als „einen Schüler  Puschkins“, des russischen Nationaldichters und Begründers der modernen russischen Literatur.

„Dostojewski kann man mit einem Satz beschreiben: Es ist der beste Leser Puschkins, den es auf der Erde gegeben hat. Er erinnert alle verschiedenen Menschen sozusagen an ihr höheres Selbst oder an das, was in jedem Menschen lebt und im Laufe der Zeit immer wieder denaturiert und verformt wird.“

Swetlana Geier hat Dostojewskis Meisterwerke neu geschrieben

Es war aber auch Swetlana Geier, welche die besondere sprachliche Qualität von Dostojewskis Werken in den Mittelpunkt stellte und damit im deutschen Sprachraum absolutes Neuland betrat. Sie war es auch, die zum Entsetzen des Verlages den altbekannten Titel „Schuld und Sühne“ änderte in „Verbrechen und Strafe“ – denn in der russischen Kultur gibt es weder Schuld noch Sühne.

Vielleicht lag es daran, dass ihr die Deutschlehrerin vor 75 Jahren immer wieder erklärte: „Nase hoch beim Übersetzen!“ Swetlana Geier sollte nicht „am Text kleben“, sondern den feinsten Schwingungen der russischen Sprache nachhorchen und sie im Deutschen nachmodellieren, weshalb sie ein Leben lang mündlich übersetzte. Sie lernte erst den Originaltext auswendig und diktierte dann die deutsche Fassung, die sie später minuziös überarbeitete.

Es ist kein Zufall, dass in den Rezensionen der Neuübersetzungen aus dem Ammann Verlag mehr von der Übersetzerin gesprochen wurde, als von Dostojewski selbst. Swetlana Geier hatte die Meisterwerke neu geschrieben.

Swetlana Geier & Dostojewski: die Bücher

„Swetlana Geier: Ein Leben zwischen den Sprachen.
Russisch-deutsche Erinnerungsbilder“
Aufgezeichnet von Taja Gut
Pforte-Verlag, Dornach 2008
ISBN 978-3-85636-212-6

„Swetlana Geier – Leben ist Übersetzen“
Gespräche mit Lerke von Saalfeld
Ammann-Verlag, Zürich
ISBN 978-3-25030-022-9

Swetlana Geier arbeitet zwanzig Jahren an der Neuübersetzung von Dostojewskis Meisterwerken – den „fünf Elefanten“ mit insgesamt 5.000 Seiten Umfang – die im Zürcher Ammann-Verlag erschienen sind. Leider sind die Originalausgaben von Dostojewskis Meisterwerken  „Verbrechen und Strafe“,  „Der Idiot“ und  „Böse Geister“ derzeit vergriffen, weshalb hier als zweite Bestellnummer jene der verfügbaren Taschenbuchausgabe aus dem Fischer Verlag angegeben wird:

„Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“
Fischer Verlag, 2006
ISBN 978-3-10015-510-8

„Verbrechen und Strafe“
Ammann Verlag, 1994, derzeit vergriffen
ISBN 978-3-25010-174-1
Fischer Taschenbuch
ISBN 978-3-59612-997-3

„Der Idiot“
Ammann Verlag, 199, derzeit vergriffen
ISBN 978-3-25010-257-1
Fischer Taschenbuch
ISBN 978-3-59613-510-3

„Böse Geister“
Ammann Verlag, 1998, derzeit vergriffen
ISBN 978-3-25010-261-8

„Der Grossinquisitor“
Ammann Verlag, 2001
ISBN 978-3-25020-002-4

„Die Brüder Karamasow“ louboutin uk , christian louboutin sale , nike free pas cher , longchamp pliage pas cher , air max pas cher , air jordan 9 retro pas cher , sac à main longchamp pas cher , nike air max , nike air max one pas cher
Ammann Verlag, 2003
ISBN 978-3-25010-259-5

„Ein grüner Junge“
Ammann Verlag, 2006
ISBN 978-3-25010-433-9

Bildunterschrift:
Swetlana Geier, Dostojewski-Übersetzerin, gestorben am 7. November 2010. Foto: Jürg Vollmer / maiak.info

Den Originalbeitrag mit weiteren verlinkungen lesen Sie hier: http://www.maiak.info/swetlana-geier-dostojewski-literatur

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