Greifswald/gc/pm. Seit dem 6. Juli 2009 sind die vier verschiedenen Teile des berühmten Codex Sinaiticus, der ältesten vollständigen Bibelhandschrift in griechischer Sprache, wieder vereint – als digitalisierte Dokumente.
Ergänzt wird diese virtuelle Zusammenführung zukünftig durch eine ausführliche Darstellung der Entdeckungsgeschichte von Prof. Dr. Christfried Böttrich von der Universität Greifswald, die zahlreiche neu recherchierte Archivalien einbezieht.
Im März 2009 hatten die Universitätsbibliothek Leipzig, die British Library, das Katharinenkloster auf dem Sinai und die Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg vereinbart, ihre jeweiligen Teile der Handschrift zu digitalisieren und virtuell im Internet zusammenzufügen.
Die Geschichte des Codex Sinaiticus begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts und erstreckte sich über einen Zeitraum von insgesamt 15 Jahren. 1844 reiste der Leipziger Theologe Constantin Tischendorf zum ersten Mal auf den Sinai, wobei er 129 Seiten einer griechischen Bibelhandschrift fand. 43 Blätter durfte er mitnehmen; der Rest verblieb im Kloster. Einer zweite Reise im Jahre 1853, die jenen zurückgelassenen Blättern galt, blieb erfolglos. Was Tischendorf suchte, schien inzwischen verschollen zu sein. Erst seine dritte Reise von 1859, die er im Auftrag des Zaren Alexender II. unternahm, war von Erfolg gekrönt: Die restlichen Blätter, ergänzt um einen weiteren umfangreichen Bestand (alles in allem 346 Blätter), waren inzwischen wieder zusammengefügt und in der Zelle des Oikonomos aufbewahrt worden. Nach ihrem Fundort bezeichnete Tischendorf die Handschrift als Codex Sinaiticus; der erste, nach Leipzig überführte Bestand an 43 Blättern war bereits 1846 unter der Bezeichnung Codex Friderico-Augustanus veröffentlicht worden.
Die beinahe quadratische, großformatige Handschrift mit ihrem charakteristischen Schriftbild von vier Textkolumnen enthält einen großen Teil des Alten Testaments, das komplette Neue Testament sowie zwei weitere frühchristliche Schriften, den Barnabasbrief und Teile einer christlichen Apokalypse, des Hirten des Hermas. Paläographisch lässt sich der Codex sicher in die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. datieren.
Tischendorf begann noch in der Nacht der Entdeckung mit der Arbeit an einer Publikation der Handschrift. Innerhalb von drei Jahren legte er, zwischen den Verlagen in Leipzig und St. Petersburg pendelnd, eine mustergültige Faksimileedition vor. Zu diesem Zweck hatten ihm die Väter des Klosters die Handschrift zunächst leihweise überlassen, wofür auch der russische Botschafter in Konstantinopel bürgte. Gleichzeitig entstand der Plan einer Schenkung an den Zaren, der jedoch aufgrund interner Auseinandersetzungen um die Neuwahl des Erzbischofs vom Sinai nicht ausgeführt werden konnte.
Erst 1869 wurde die Schenkung in aller Form durch den inzwischen rechtmäßig installierten Erzbischof Kallistratos vollzogen; die Handschrift wechselte in St. Petersburg daraufhin vom Außenministerium in die Räume der ehrwürdigen Öffentlichen Bibliothek über. 1933 verkaufte die Regierung der Sowjetunion die 346 Blätter für 100.000 Pfund an die Bibliothek des Britischen Museums. Der entscheidende Erlass wurde von Stalin persönlich unterzeichnet.
Ein letzter Akt der Entdeckungsgeschichte fand 1975 statt, als bei Bauarbeiten im Katharinenkloster auf dem Sinai noch einmal zwölf neue, bislang unbekannte Blätter gefunden wurden. Sie sind ein besonders wichtiger Bestandteil des gegenwärtigen Digitalisierungsprojektes.
Die abenteuerliche Entdeckungsgeschichte des Codex Sinaiticus war bislang mit einer Reihe von Unklarheiten behaftet. Vor allem die Person Tischendorfs geriet dabei immer wieder in das Kreuzfeuer der Kritik. Dass die Handschrift gestohlen bzw. unrechtmäßig nach Sankt Persburg gebracht worden sei, begründete man mit ihrem Charakter als einer Leihgabe. Von Seiten des Klosters wurde auf ein entsprechendes Dokument verwiesen, dass seit 1964 auch im Druck zugänglich ist. Das Faktum einer Schenkung indessen zog man zunehmend in Zweifel.
Im Rahmen des Digitalisierungsprojektes fanden deshalb noch einmal umfangreiche Recherchen in russischen, englischen und deutschen Archiven statt, die eine Fülle neuen Materials zutage förderten. Darunter befinden sich auch die in Moskau entdeckten und 2007 publizierten Schenkungsdokumente sowie zahlreiche Schriftstücke, die eine präzise Rekonstruktion des Verkaufes nach London gestatten.
Auf der Basis dieses neuen Materials hat Prof. Dr. Christfried Böttrich von der Universität Greifswald, der seit Jahren mit den Leipziger Nachlässen Tischendorfs befasst ist, die Entdeckungsgeschichte des Codex Sinaiticus neu geschrieben.
Diese bislang detaillierteste Darstellung wird in Kürze auf der Website des Projektes
http://www.codex-sinaiticus.net erscheinen (deutsch, englisch, russisch, griechisch).
Damit verbindet sich auch die Hoffnung, jenen über lange Zeit schwelenden Konflikt zu überwinden und zu einer neuen, gemeinsamen Sicht auf die Umstände der Entdeckung und des Transfers dieser einzigartigen Handschrift nach Leipzig, St. Petersburg und London zu gelangen.
Bereits seit Juli 2008 waren erste Teile der Leipziger und der Londoner Blätter im Internet zu sehen. Mit der Londoner Tagung von Anfang Juli 2009 soll diese Präsentation ihren vorläufigen Abschluss finden. Für die weitere Erforschung des griechischen Bibeltextes ist damit ein Instrument geschaffen, das Modellcharakter auch für andere, aufgrund ihrer Entdeckungsgeschichte auf verschiedene Standorte verteilte Handschriften, gewinnen könnte.