Berlin/gc/www.ne-na.de. Im jedem Frühjahr und Herbst erleben wir in Deutschland das gleiche Ritual: Bedeutungsschwer räkeln sich mit Steuergeldern alimentierte Wirtschaftswissenschaftler auf den Podiumsstühlen der Bundespressekonferenz und verkünden den andächtig lauschenden Journalisten ihren Prognose-Zahlensalat über die Konjunkturentwicklung. Runde 41 Millionen Euro muss der Steuerzahler alleine auf Bundesebene pro Jahr für die makroökonomischen Rechenspiele aufbringen.
Das weist zumindest die so genannte „Blaue Liste“ des Bundesfinanzministeriums im Haushaltplan aus (Seite 13 ff.
http://www.bundesfinanzministerium.de/bundeshaushalt2008/pdf/epl09/s0902.pdf).
Eigentlich könnte man für diese Summe eine ordentliche Arbeit erwarten. Doch das Gegenteil ist der Fall. „Man muss sagen, dass seitdem wir Prognosen haben in Deutschland - Wirtschaftswissenschaftliche Prognosen - die Prognostiker immer daneben lagen. Ziemlich stark sogar daneben lagen“, sagte Professor Rudolf Hickel von der Uni Bremen gegenüber der NDR-Sendung Zapp.
Bei der Kakophonie der Vorhersagen können sich Medien heraussuchen, was sie wollen. So fragte die Bild-Zeitung, ob die Krise endlich vorbei sei und am gleichen Tag verkündete das Hamburger Abendblatt direkt das Ende der Rezession. Kurze Zeit später ist wieder Schluss mit dem Aufschwung, da führende Wirtschaftsblätter ein Ende der Phase positiver Überraschungen an die Wand malen. Das Spektakel wiederholt sich jeden Tag. Und immer wieder leiern Journalisten unkritisch die professorale Glaskugel-Wahrsagerei herunter.
Nach dem aktuellen Herbstgutachten soll überraschenderweise die Wirtschaft in Deutschland um 1,2 Prozent wachsen. Die Überschriften überraschen nicht: Herbstprognose nach oben geschraubt (Manager Magazin); Eine kleine Portion Optimismus (Süddeutsche Zeitung); Positives Wirtschafts-Herbstgutachten (FTD); Institute erwarten nur schwachen Aufschwung (FAZ); Deutsche Wirtschaft wächst wieder (Bild).
Warum gehen die Berichterstatter nicht der Frage nach, ob das Wachstum nicht bei 1,25 oder 0,75321 Prozent liegen könnte. Richtig, das wäre statistischer Schwachsinn. Die Prognostiker geben den Gutachten einen präzisen Anstrich, mehr nicht. „Wer heute eine Prognose abgibt oder schon in den letzten Jahren mit einer Kommastelle, also 4,9 Prozent für 2009, 1,7 Prozent fürs letzte Jahr, dem muss ich wirklich sagen, der verwirrt, der führt im Grunde die Öffentlichkeit hinters Licht. Niemand kann ernsthaft aufgrund der Globalisierung, aufgrund vieler Einflussfaktoren, auf die Kommastelle genau prognostizieren“, erklärt Hickel.
Ein Prozent nach oben oder nach unten - genauer lasse sich das Wirtschaftswachstum nicht vorhersagen, so Ulrich Fritsche, Juniorprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg, gegenüber dem Wirtschaftsmagazin brandeins. Sein Spezialgebiet: die Bewertung von Konjunkturprognosen.
Eine Wachstumsprognose von 0,5 Prozent müsste demnach eigentlich lauten: Wir gehen von einem Wachstum von minus 0,5 Prozent bis plus 1,5 Prozent aus. „Aber so etwas kann man der Öffentlichkeit schlecht verkaufen“, meint Fritsche. Deshalb sollten die volkswirtschaftlichen Trend-Gurus mehr Demut an den Tag legen und ihre wissenschaftstheoretische Fundierung selbstkritisch überprüfen, fordert der Personalexperte Udo Nadolski, Geschäftsführer des Düsseldorfer Beratungshauses Harvey Nash:
„Ein Studium der Werke von Karl Popper könnte einigen VWL-Professoren gut tun. Sie würden erkennen, dass ihre wissenschaftliche Arbeit ungefähr auf dem Niveau der Unterhaltungsbranche rangiert. Wer sich mit der Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt, ist ein Geschichtenerzähler. Um geschichtliche Ereignisse vorhersagen zu können, müsste man nach Erkenntnissen von Popper die technologische Innovation vorhersagen, die jedoch grundsätzlich nicht vorher gesagt werden könne“, so der Einwand von Nadolski. Bei ökonomischen und sozialen Prozessen sei die Komplexität einfach zu groß, um sie genau zu berechnen.
„Management der Zukunft findet unter den Bedingungen der Komplexität und Zufall statt. Zufallsfluktuationen und Komplexität erzeugen nichtlineare Dynamik“, schreibt der Wissenschaftstheoretiker Klaus Mainzer in seinem Buch „Der kreative Zufall – Wie das Neue in die Welt kommt“. In unsicheren und unübersichtlichen Informationsräumen könnten Menschen nur auf Grundlage beschränkter Rationalität entscheiden und nicht als homo oeconomicus. Der laplacesche Geist eines linearen Managements von Menschen, Unternehmen und Märkten sei deshalb zum Scheitern verurteilt.
Auch wissenschaftliche Modelle und Theorien seien Produkte unserer Gehirne. „Wir glauben in Zufallsreihen Muster zu erkennen, die keine sind, da die Ereignisse wie beim Roulette unabhängig eintreffen. Wir ignorieren Spekulationsblasen an der Börse, da wir an ein ansteigende Kursentwicklung glauben wollen“, erläutert Professor Mainzer.
Zufall sollte zu einer Ethik der Bescheidenheit führen. Es gebe keinen Laplaceschen Geist omnipotenter Berechenbarkeit. In einer zufallsabhängigen Evolution sei kein Platz für Perfektion und optimale Lösungen. Zufällig, spontan und unberechenbar seien auch Einfälle und Innovationen menschlicher Kreativität, die in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte als plötzliche und unvorherbestimmte Ereignisse beschrieben werden. Ohne Zufall entstehe nichts Neues. „Nicht immer fallen die Ereignisse und Ergebnisse zu unseren Gunsten aus – das Spektrum reicht von Viren und Krankheiten bis zu verrückten Märkten und Menschen mit krimineller Energie“, resümiert Mainzer.
Die Idee einer exakten Wirtschaftswissenschaft mit der Präzision der Physik oder Chemie war von Anfang an eine Illusion gewesen. Darauf machte bereits in den 1930er Jahren der Ökonom Joseph A. Schumpeter aufmerksam. Makroökonomen würden sich nur mit Aggregaten beschäftigen, also mit der Gesamtsumme der Mittel, die Volkswirtschaften für den Konsum und für Investitionen aufwenden. Im keynesianischen Modell wie auch in anderen makroökonomischen Modellen verschwinden einzelne Unternehmer, Firmen, Branchen und Konsumenten völlig aus dem Blickfeld.
Die Rolle von Innovationen werde heruntergespielt, bemängelte Schumpeter. Die Klatschbasen der Statistik schalten dennoch auf Stur und verrichten bienenfleißig ihr Tagwerk. Wer mit Worten statt mit Gleichungen argumentiert, wird aufs Altenteil verwiesen. „Mit der formalen Eleganz der abstrakten Modelle, die einen wunderbar präzisen Eindruck machten, konnten die klassischen Ökonomen nicht konkurrieren“, schreibt Hans Magnus Enzensberger in seiner Abhandlung „Fortuna und Kalkül – Zwei mathematische Belustigungen“, erschienen in der edition unseld. Die finanzmathematischen Theorien konnten sogar mehrere Nobelpreise abräumen. Ein lehrreiches Beispiel für die Modell-Gläubigkeit lieferte der Hedge-Fonds „Long-Term Capital Management“.
„Zwei Herren, Myton Scholes und Robert Merton, die für ihre einschlägigen Verdienste mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, dienten dem Fonds als Direktoren. Die Instrumente, mit denen sie arbeiteten, waren damals nur einer Minderheit von Eingeweihten vertraut: ABCPs, Carry Trades, CDOs, Optionen, Leerverkäufe, Derivate und andere, noch exotischere ‚Produkte’“, führt Enzensberger aus. Geholfen haben die Nobelpreise bei der Vorhersage des Zusammenbruchs der Finanzmärkte leider nicht. Die Gefahr einer Bankenkernschmelze wurde in dem Risikomodell von Scholes und Merton nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit berechnet.
Die Lektüre von Benoit Mandelbrot hätte da weiterhelfen können. In seiner 2004 veröffentlichten Schrift „Fraktale und Finanzen. Märkte zwischen Risiko, Rendite und Ruin“ warnte er vor Modellen, die blind seien für extreme Ereignisse, weil sie auf der Gaußschen Normalverteilung beruhen. Dazu komme eine weitere Fehlerquelle, so Enzensberger. Die Modelle seien in hohem Maße in der Software ihrer Computer codiert. Damit gängeln diese Programme als eine Art Kollektiv-Unbewusstes das Verhalten der Akteure.
Die Wahrscheinlichkeitstheoretiker ließen sich aber nur schwer aus den Angeln heben, bemerkt der Dichter und Mathematik-Kenner Enzensberger: „Glücklicherweise hat eine italienische Philosophin namens Elena Esposito, die sich aus übertriebener Bescheidenheit als Soziologin bezeichnet, kürzlich eine kleine Abhandlung veröffentlicht, die mit einem Handstreich zeigt, wie man es besser macht. In ihrer Schrift ‚Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität’ schlägt sie den Knoten durch, indem sie beweist, dass es sich bei prognostischen Aussagen, die auf Wahrscheinlichkeitskalkülen beruhen, grundsätzlich um Fiktionen handelt.
Zukünftige Ereignisse treten nämlich nicht zu 9 oder zu 99 Prozent, sondern entweder ganz oder gar nicht ein, und zwar unabhängig von allen Voraussagen. Es wäre deshalb schierer Zufall, wenn die Propheten recht behielten“. Der illusionäre Charakter der Prognostiker beruhe auf der Exaktheit, welche das mathematische Instrumentarium zu verbürgen scheine.
„Die heutige Ökonomie ist ein theoretisches Spiel, das in der Luft schwebt und kaum Bezug auf das hat, was in der wirklichen Welt passiert“, moniert Ronald H. Coase, der mit seinen Forschungsarbeiten den Grundstein für die Neue Institutionenökonomik legte. Die VWL-Modelle seien ein Realitätsersatz. Dumm sei nur, dass die Erfinder ihre Fiktionen fortwährend mit der Realität verwechseln und dass ihnen jedes Bewusstein dieser Verwechslung fehlt.
Journalisten werden trotz dieser ernüchternden Befunde Prognosen weiterhin wie Tatsachen behandeln: „Medien fordern genaue Zahlen. Wer vage bleibt, wird nicht zitiert. Mehr Schlagzeilen, mehr Anerkennung. Wissenschaftler brauchen Medien und Medien brauchen Prognosen. Jeder wüsste gerne was die Zukunft bringt. So oder so“, resümiert die NDR-Sendung Zapp.
Diskussion zum Thema unter: http://www.ne-na.de/zufall-sollte-zu-einer-ethik-der-bescheidenheit-f-hren-aber-nicht-bei-wirtschaftsprognostikern-warum-medien-konjunkturvorhersagen-wie-tatsachen-behandeln/00149RedaktionNeueNachrichtGunnar Sohn
Ettighoffer Straße 26A
53123 Bonn
Tel: 0228 – 6204474
Mobil: 0177 – 620 44 74
gunnareriksohn@googlemail.comhttp://www.ne-na.dehttp://twitter.com/gsohnhttp://dienstleistungsoekonomie.ning.comhttp://gunnarsohn.wordpress.comhttp://www.facebook.com/gsohnAuf
http://www.german-circle.de können Sie kostenlos für 9 Tage fremde oder eigene Nachrichten veröffentlichen lassen. Mailen Sie Ihre Texte und Bilder einfach an die Redaktion (
redaktion@german-circle.de). Achten Sie bitte darauf, dass Ihre Bilder und Nachrichten frei von Rechten Dritter sind.
Vielen Dank!
Redaktion des German Circle