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Ukraine Politik Hintergrundbericht
Juschtschenko: Absturz vom Messias zur Hypothek
Banditen ins Gefängnis
Chance zur Modernisierung nicht genutzt
Redaktion: Johannes Voswinkel / maiak.info
Eingestellt am  24.01.2010 Aktualitätsende 02.02.2010
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Kiew/gc. In der ersten Präsidentschaftswahl seit der Orangen Revolution hat Wiktor Juschtschenko mit prognostizierten 5 Prozent der Stimmen nicht einmal den Hauch einer Chance auf Wiederwahl.

Wie ein Messias wurde Wiktor Juschtschenko einst nach dem Triumph seiner  orangefarbenen Revolution gefeiert. „Heute ist ein kolossaler Vorschuss auf die Zukunft der Ukraine erteilt worden“, rief er im Herbst 2004 auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew aus. „Ich möchte, dass er gerechtfertigt ist.“ Seine Anhänger, die friedlichen Revolutionäre, jubelten angesichts ihres Helden dort oben auf der Bühne. Die Ukraine schien sich von den Dämonen der sowjetischen Vergangenheit befreit zu haben.

Doch Juschtschenko hat den Vorschuss nicht genutzt. Heute verkörpert er die größte nationale Enttäuschung seit der Unabhängigkeit. Seine Schwächen und Fehler haben obsiegt. Die Ukraine hat zwar einen Entwicklungssprung zu einer offeneren Gesellschaft mit verantwortungsbewussten Bürgern gemacht. Aber nur zu Anfang trug Juschtschenko dazu bei. In den vergangenen fünf Jahren reifte die Gesellschaft trotz des Präsidenten.

Juschtschenkos Anhänger trieb die Hoffnung auf den Vorrang des Rechts vor der Macht, auf Gleichheit und Wohlstand an. Nach 13 Jahren eines zynischen Regimes verschiedener Wirtschaftsclans kam er gerade recht, und einen besseren gab es nicht. In der Euphorie des orangefarbenen Sieges bei der Wiederholung der Stichwahl zum Präsidentenamt am 26. Dezember 2004 übersahen viele, dass auch der selbsterklärte Demokrat Juschtschenko durch die Schule der sowjetischen Nomenklatura gegangen war.

Zwar ist er kein Apparatschik, der wie sein Gegenspieler Wiktor Janukowytsch den Sport der Parteibonzen, die Jagd, liebt. Juschtschenko züchtet vielmehr Bienen und sammelt Ikonen. Zwar trinkt er kaum, spricht gewählt und zeigt Manieren, was ihn von den instinktgetriebenen Leitwölfen der alten Führungskader unterscheidet, die nicht in Überzeugungen, sondern in Machtkonstellationen denken. Aber auch Juschtschenkos Sinn für die Unabhängigkeit der Institutionen, des Parlaments, der Gerichte und der Presse ist unterentwickelt.

Juschtschenkos Problem ist seine Entscheidungsschwäche
Als Präsident ließ Juschtschenko die Versprechen der Revolutionstage bald hinter sich: Der Kampf gegen die Korruption gemäß dem Revolutionsslogan „Banditen ins Gefängnis!“ und die Trennung von Wirtschaft und Politik blieben aus. Der Respekt vor Gesetz und Verfassung endete immer öfter im Bestreben, Schlupflöcher für die eigenen Machtziele zu finden. Juschtschenko versuchte, als Herrscher zu regieren, und schätzte wie seine Konkurrenten die Meinungsfreiheit vor allem, wenn es um die Schmähung der politischen Gegner ging.

Zugleich behinderte ihn seine Entscheidungsschwäche. Schon als Chef der Nationalbank der Ukraine, kolportiert einer seiner Vertrauten, habe sich Juschtschenko in dramatischen Situationen schon mal in seinem Büro eingeschlossen und das Telefon abgeschaltet. Die Vorsehung oder sein Vize sollten die nötigen Entscheidungen treffen.

„Aufstehen, Wiktor, es ist Revolution!“
Nach seiner Entlassung als Premierminister im Mai 2001 zögerte Juschtschenko jahrelang, sich an die Spitze der Opposition zu setzen. Erst allmählich entwickelte er sich, angetrieben von der radikalen Mitstreiterin Julija Tymoschenko, vom Mann des Systems zum oppositionellen Kämpfer. Eine Rolle spielte dabei der rätselhafte Vergiftungsversuch mit einer Dioxin-Chemikalie, die ihn im September 2004 schwer erkranken ließ und sein Gesicht entstellte. Der eitle und zum eleganten Auftritt neigende Juschtschenko litt besonders schwer darunter. Der Anschlag auf sein Leben lehrte ihn Härte.

Treibende Kraft aber blieb Tymoschenko, die früher bereits für ein Gemälde als Barrikadenstürmerin posiert hatte. „Tymoschenko klopft vermutlich jeden Morgen an Juschtschenkos Zimmertür und ruft: ‘Aufstehen, Wiktor, es ist Revolution!’“, scherzte ein westlicher Diplomat während der orangefarbenen Protestwochen. Juschtschenkos mal bedachte, mal lahme Art mag ein Blutvergießen verhindert haben, was in einem konfliktscheuen Land wie der Ukraine bedeutsam ist. Aber als neu gewählter Präsident fehlte dem Zauderer die nötige Entschlossenheit zur Veränderung.

Juschtschenko ist ein Harmonisierer
Der Revolutionär wider Willen konnte sich von falschen Freunden nicht trennen und verschreckte zugleich Wohlmeinende. Er verzettelte sich, statt die Dynamik des Siegesmoments zu nutzen. Schon im größten Triumph auf dem Unabhängigkeitsplatz hatte er verhalten gewirkt. Während mancher seiner Mitstreiter mit napoleonischer Körperhaltung über die Bühne stolzierte, feierte er die orangefarbene Revolution als stiller Genießer.

Das Reden liegt ihm mehr im kleinen Kreise, wo er reserviert, zuweilen einnehmend, aber auch gerne zu lange spricht. Auf der Bühne machte er wie eine personifizierte Deeskalation ungeschickte Redepausen, und viele im Publikum mussten sich anstrengen, um zu begreifen, wann sie lauschen, klatschen oder jubeln sollten. Als er am Schluss mit beiden Händen Victory-Zeichen formen wollte, winkte er mehr, als dass er sich als Sieger produzierte.

Juschtschenko ist ein Harmonisierer und Familienmensch. Politisches und Persönliches vermischt er zur chaotischen Beziehungskiste. Er ist Taufvater der Zwillingstöchter seines engen Vertrauten und Finanziers Petro Poroschenko, der nach der orangefarbenen Revolution von Skandal zu Skandal eilte. Sogar dem befreundeten georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili bot er seine Patendienste an.

Für Familie und Freunde opfert Juschtschenko seine Prinzipien
Die Familie, die Juschtschenko als Kern der Nation versteht, liegt ihm besonders am Herzen. Deshalb reagierte er heftig, als Journalisten berichteten, dass sein Sohn, ein Student im sechsten Semester, ein 130.000 Dollar teures Auto fahre und im Nachtklub „Dekadenz“ hohe Rechnungen hinterlasse. Juschtschenko verteidigte das Heiligtum seiner Familie, als er einen Journalisten des „Auftragsmords mit Informationen“ bezichtigte.

Für Freunde opfert er, wenn nötig, Prinzipien und seine Politik. Er liebt seinen Getreuenkreis, der zu Revolutionszeiten mit fünf früheren Vizepremiers und neun Ex-Ministern von der Staatsnomenklatura geprägt war, und handelt nach dem Motto: Streit wird nicht aus der eigenen Hütte getragen. Selbst jene destruktiven Mitstreiter, die Juschtschenko nach langem Zögern in die Wüste schickte, bezeichnet er weiterhin als seine Freunde.

Im verhängnisvollen Dreigestirn der ukrainischen Politik besitzt er im Gegensatz zu Julija Tymoschenko oder Wiktor Janukowytsch Ansätze einer Ideologie. Sie trägt Elemente der westlichen Demokratie, ist aber vor allem vom gemäßigten ukrainischen Nationalismus geprägt.

„Ich liebe die Ukraine unendlich“, sagt Juschtschenko. Er preist tote Kosaken, denen die Ukraine heilig gewesen ist, und zeigt sich beim Anblick einiger Grabplatten im Museum von Cherson gerührt, weil die eingemeißelten Epitaphe beschreiben, was die Toten einst für ihre Stadt taten. Das entspricht seiner Vorstellung von Patriotismus. Im Gefühlsschwang neigt er zum Kitsch: „Wenn es der Ukraine hülfe, dass ich mich zu Asche verbrenne“, sagte Juschtschenko einmal, „wäre ich glücklich.“

Juschtschenkos Politik ist oft unausgewogen und kontraproduktiv
Auf der Suche nach der ukrainischen Identität verirrt sich Juschtschenko in historische Grauzonen. Er verleiht Orden an frühere Anführer der Ukrainischen Aufstandsarmee, die während des Zweiten Weltkriegs vor allem in der Westukraine gegen sowjetische und deutsche Besatzer kämpfte und zahlreicher Massaker beschuldigt wird. Oder er erklärt die Stalinsche Hungerperiode Holodomor identitätsstiftend gleich zum Völkermord.

Auch die Sprachenpolitik, die das Russische mit Gesetzen und Verordnungen zurückdrängt, ist oftmals unausgewogen und kontraproduktiv: Die strengen Sprachquoten im ukrainischen Fernsehen treiben die Zuschauer vor allem im Osten des Landes direkt zu den propagandistischen Fernsehkanälen aus Russland. Sogar die Krimtataren, die einst zu seinen stärksten Unterstützern zählten, sind von Juschtschenko enttäuscht: Früher hätten sich die Ukrainer ebenfalls unterdrückt gefühlt und Solidarität mit der Minderheit der Tataren gezeigt, beklagen Aktivisten der Krimtataren. Heute zögen sie rigoros ihre Ukrainisierungspolitik durch.

Musterschüler mit mathematisch exaktem Verstand
Gerade in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise, die das Land an den Rand des Bankrotts brachte, wirken Juschtschenkos rückwärtsgewandte Politik und seine Romantisierung der ländlichen Ukraine unpassend. Seine Datscha ähnelt einem Museum ukrainischer Volkskunst: Alte Kleider und Koffer, Heiligenbilder aus dem 18. Jahrhundert, Gesticktes und Geschnitztes und ein Pflug liegen drapiert herum. Eine Windmühle, zwei Gartenlauben, ein alter Pferdewagen, Pfauen, Hühner, Katzen und ein Hund runden das Idyll ab. „Hier gibt es nichts Städtisches“, sagt Juschtschenko stolz und plaudert stundenlang von der Freude an der Imkerei, dem Bergwandern und der Gärtnerei.

Wiktor Juschtschenko stammt aus der tiefen Provinz, wo das eigene Haus, die Dorfgemeinschaft und die orthodoxe Religion die Marksteine setzen. Vor 55 Jahren wurde er in Choruschiwka im Gebiet von Sumy im Nordosten der Ukraine als Sohn des Dorflehrers geboren. Später in Kiew erzählte er stolz, dass er früher Schweine und Kühe gehütet habe.

Schon als Kind zeigte sich Juschtschenko nicht als Barrikadenkletterer, sondern als Musterschüler mit mathematisch exaktem Verstand. Später studierte er am Finanztechnischen Institut in Ternopil, arbeitete in der Abteilung für Marxismus und Leninismus und stieg vom Kolchosbuchhalter zum Chef der Nationalbank auf. Er sah sich als Ökonom, nicht als Politiker, und führte erfolgreich die Währung des Griwna ein. Seine Dissertation widmete er der „Entwicklung von Geldangebot und Geldnachfrage in der Ukraine“. In Interviews überzog er Journalisten mit einem Zahlenbombardement.

Premierminister Juschtschenko sanierte die Ukraine in einem Jahr
Im Dezember 1999 wurde Wiktor Juschtschenko Premierminister. Der Popularitätswert des hochgewachsenen Mannes mit groben Händen und dem Aussehen eines Hollywoodstars hielt sich damals durchweg über 50 Prozent. In nur einem Jahr gelang es ihm, den Haushalt auszugleichen und die Auslandsschulden zu restrukturieren.

Er legte mit dem Ende der Bartergeschäfte den Grundstein für das folgende Wirtschaftswachstum. Doch die Stahl- und Energiebarone brachten den „schönen Witja“ dank ihrer (Brief-)Taschenabgeordneten im Parlament mit einem Misstrauensvotum zu Fall, weil sie sich zu wenig hofiert fühlten.

„Ich gehe um wiederzukommen“, sagte er nach seiner Niederlage vor dem Parlament. Viele zweifelten daran, da sie ihn für zu weich hielten. Doch 2004 wird er zum Hoffnungsträger all jener, denen das bestehende System der dominierenden Wirtschaftsclans die Luft zum Atmen abzuschnüren droht.

Juschtschenko ist gefangen in den 1990er-Jahren
Nach seinem Revolutionssieg zeigt sich, dass der ehemalige Zentralbanker besser Währungen als Regierungen stabilisieren kann. Sein Erfolg ist ihm zu Kopf gestiegen, und viele im Kreis seiner Getreuen schwärmen ihn an. Er predigt gerne und hört immer seltener zu. Als Wiktor Baloha im September 2006 Chef der Präsidialverwaltung wird, nimmt er als Erstes alle persönlichen Berater Juschtschenkos und damit den Fluss ungeschminkter Informationen unter Kontrolle.

Wiktor Juschtschenko verstrickt sich immer tiefer in der Parallelwelt des Kiewer Politzirkus. Die politische Klasse der Ukraine ist gefangen in den 1990er-Jahren: Ämter werden als persönlicher Besitz betrachtet, den es auszuschlachten gilt. Es geht um die Verdrängung des politischen Gegners. Auch Juschtschenko ordnet fast alles dem Stellungskrieg mit Tymoschenko unter. Er kann nicht verwinden, dass sie beliebter ist als er. Alle halbherzigen Versöhnungen sind ihre Worte nicht wert.

Die orangefarbene Revolution lässt die Bevölkerung enttäuscht, ratlos und politikverdrossen zurück. Wiktor Juschtschenko hat die Chance zur Modernisierung nicht genutzt. Vom Messias wurde er in fünf Jahren zur Hypothek der Ukraine. Mit prognostizierten 5 Prozent der Stimmen hat er nicht einmal den Hauch einer Chance auf Wiederwahl. „Ich habe genug Kraft für zwei Präsidentschaftsperioden“, hat Wiktor Juschtschenko einmal verheißungsvoll gesagt. Auch dieses Versprechen wird er kaum einhalten.

HONORARFREIER ABDRUCK
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Den Originalbeitrag lesen Sie hier: http://www.maiak.info/wiktor-juschtschenko-prasidentschaftswahl-2010-ukraine

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