Kiew/gc. Die ukrainischen Bürger sind von den endlosen Machtkämpfen und dem Chaos ihrer Politiker müde oder apathisch geworden. Nach der Orangen Revolution im Herbst 2004 haben Präsident Juschtschenko, Premierministerin Tymoschenko und das Parlament jeglichen Vertrauenskredit verspielt. Der einzige „Luxus“ der Ukrainer sind die Freiheit und Unabhängigkeit, die damals Hunderttausende auf der Straße verteidigten.
Die Ukraine steckt in der Krise. Das Tauziehen zwischen Präsident Wiktor Juschtschenko, Premierministerin Julija Tymoschenko und dem Parlament – beziehungsweise der dort dominierenden oppositionellen Partei der Regionen von Wiktor Janukowytsch – nimmt kein Ende.
Die Hauptakteure der Orangen Revolution im Herbst 2004 haben sich hoffnungslos zerstritten und den damals bei der Bevölkerung aufgenommenen Vertrauenskredit mit scheinbar endlosen Machtkämpfen und dem daraus resultierenden politischen Chaos verspielt.
Die Freiheit der “anderen Meinung” ist gebliebenAls ich bei einem Besuch in Kiew mit meinen ukrainischen Freunden die politische Lage erörterte, konnte ich ihre traurige Bilanz nicht ganz teilen. So genießt die ukrainische Presse eine Freiheit, die in keinem anderen Nachfolgestaat der Sowjetunion anzutreffen ist; einige Zeitungen, wie z.B. „Wochenspiegel“ weisen ein beträchtliches Niveau an analytischer Tiefenschärfe auf.
Die breite Palette an kritischen Meinungen und unangenehme Tatsachen beim Namen nennenden Berichten erinnerte mich an die sowjetische Medienlandschaft am Ende der 1980er Jahre, die von Michail Gorbatschows Glasnost und Perestroika regen Gebrauch machte. Die in der heutigen Ukraine übliche freie, unzensierte journalistische Arbeit erlauben sich in Russland heute aber nur noch einzelne oppositionelle Blätter; die meisten anderen hat der Kreml längst gleichgeschaltet.
Meine ukrainischen Bekannten hatten sich so sehr an die Freiheit der „anderen Meinung“ gewöhnt, dass sie diese für selbstverständlich hielten. Als ich ihnen mehr von Russland berichtete, wurde ihnen besser bewusst, wie kostbar solche „Selbstverständlichkeiten“ doch sind und wie leicht sie wieder verloren gehen können. Mir wurde dagegen erneut klar, wie weit sich die Ukraine in wenigen Jahren von Russland entfernt hat.
Die Distanz der Ukraine zu RusslandUnd wenn man heute mit Besorgnis die immer neuen Zerwürfnisse in der politischen Klasse der Ukraine betrachtet, so geht es doch auch und gerade darum, ob das Land die in der politischen Kultur gewonnene Distanz zu Russland behalten wird können.
Dabei wird die Ukraine nicht nur in Russland allzu gern als unmittelbares Einflussgebiet oder sogar „quasi russisches Territorium“ wahrgenommen, sondern auch im übrigen Europa. Dort sind die ukrainische Kultur, ja selbst die ukrainische Sprache kaum bekannt. Ebenfalls wird „postsowjetisch“ oft pauschal gebraucht und nicht genügend zwischen ganz verschiedenen Pfaden der postsowjetischen Entwicklung differenziert.
Zweifelsohne ähneln viele Züge des ukrainischen Homo post-sovieticus seinem russischen (wie auch weissrussischen, georgischen, moldauischen etc.) Pendant, doch sind auch große Unterschiede evident.
Der ukrainische Homo post-sovieticusEin Unterschied betrifft die Erinnerung an die Perestroika, ihren offenen Stil und die vielen Hoffnungen, die sie in den der langen Stagnation der Breschnew-Ära in müden Sowjetbürgern weckte.
In der Bevölkerung und politischen Elite des postsowjetischen Russlands ist es längst üblich, sich voller Verachtung über diese unangenehme und peinliche „Schwächeperiode“ zu äussern, die 1991 zum Zerfall der UdSSR geführt habe. In der gesellschaftlichen Erinnerung der meisten Einwohner der Ukraine überwiegen dagegen Erleichterung und Dankbarkeit für die Etablierung der nationalen (staatlichen) Unabhängigkeit und die Befreiung vom sowjetischen Regime.
Der russische Homo post-sovieticus weist immer noch eine signifikante nostalgische Affinität zum politischen Stil der sowjetischen Epoche auf. Die Ukraine hat dagegen die von der Perestroika erweckten und teilweise umgesetzten Hoffnungen nicht vergessen und auch nicht aufgehört zu schätzen. 2004 standen sie auch auf den Fahnen der Orangen Revolution und wurden auf spektakuläre Art und Weise verteidigt. Und sie prägen bis jetzt die politische Streitkultur im Land.
Die Freiheit hat viele SchattierungenDer Unterschied in der Anzahl der Freiheitsgrade in Kiew und in Moskau scheint der jetzigen ukrainischen Führung noch bewusst und wertvoll zu sein.
Im Gegensatz zu Russland propagiert die ukrainische Führung weder „eigene Prioritäten der Menschenrechte“ (bei denen das „Recht des Staates“ stets über dem „Recht des Bürgers“ steht) noch eine „souveräne Demokratie“ (was nur ein autoritäres Regime bemänteln soll), sondern orientiert sich an den Werten der demokratischen Staaten Europas und Nordamerikas.
Angesichts der aktuellen politischen und ökonomischen Krise muss man sich aber fragen, ob die Ukraine willens und imstande sein wird, diese Ausrichtung zu behalten. Die Weltwirtschaftskrise ist eine harte Prüfung und die Ukraine balanciert hart am Staatsbankrott. Eine weitere Verarmung würden vor allem die sehr nach Russland orientierten östlichen Teile des Landes nicht mehr verkraften.
Moskau könnte Kiew weitere Kredite gewähren, würde sie aber mit harten politischen Bedingungen – so etwa einem Verbleib der russischen Schwarzmeerflotte auf der ukrainischen Krim-Halbinsel über das vereinbarte Jahr 2017 hinaus oder einer „gemeinsamen Verwaltung“ des ukrainischen Netzes von Gaspipelines – verbinden.
Der Ukraine fehlen neue KöpfeEine innenpolitische Kraftproben sind die Präsidentschaftswahlen vom 17. Januar 2010. Die Geschichte lehrt, dass erfolgreiche Revolutionsführer rechtzeitig die Bühne der Macht verlassen sollten, damit die erkämpften Veränderungen nicht missbraucht oder in internen Machtkämpfen verspielt werden. Präsident Wiktor Juschtschenko möchte sich aber wiederwählen lassen, obwohl seine Chancen und die seiner Partei Unsere Ukraine sehr gering sind.
Auch die anderen seit Jahren bekannten Akteure, die wieder kandidieren, werden den Vertrauensverlust der Wähler politisch kaum langfristig überleben. Es fehlen aber neue Köpfe, die mit einem Mandat ausgestattet sind, welches mit dem der ersten Orangen Koalition (ab 2005) vergleichbar wäre. Man kann nur hoffen, dass die Ukraine die demokratischen Spielregeln so lange behalten kann, bis eine neue Orange Generation die öffentliche Bühne betritt.
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