Glengarriff/gc. Auch geniale Internet-Visionäre ändern bisweilen ihre Meinung. Der New Yorker Informatiker und Cyber-Pionier Jaron Lanier (49) hatte das Web jahrelang als ideales Experimentierfeld menschlicher Kommunikation und Kooperation beschrieben.
In dieser Woche erklärte er im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, warum er heute eher negativ über das Internet denkt (und wie er dies in seinem neuen Buch „You are not a Gadget“ beschreibt). Lanier spricht das Problem Cyber-Mobbing an, er macht den „Niedergang“ des Netzes am Kommerz fest und er fragt sich, warum Millionen Menschen zulassen, dass ihre gesamte Kommunikation Konzernen wie Facebook oder Google gehört (wie dieser Blog beispielsweise) oder dass das Netz ihnen ihre Würde nimmt. Vor allem aber geht Jaron Lanier auf die verheerenden Folgen der Anonymität ein und behauptet, dass sich ganz normale, vernünftige Menschen im Internet allzu leicht in einen Mob verwandeln:
„... erst heute habe ich ein anonymes Forum gelesen, in dem die Leute das Ansinnen der New York Times kommentierten, künftig Geld für Online-Artikel zu verlangen. Die ersten Kommentare waren noch in Ordnung. Doch bald wuchs sich das Ganze zu einem teuflischen Gemetzel aus. Das ist keine Ausnahme, sondern ein typisches Muster im Netz ... Die Anonymität spielt eine große Rolle. Wer anonym ist, muss keine Konsequenzen fürchten und erhält dennoch unmittelbare Genugtuung . . . Das ist die Dynamik der Meute.“
Laniers Kritik erinnert mich an eigene Erfahrungen auf einschlägigen Diskussions-Plattformen wie dem Irland-Forum. Im vergangenen Jahr drohte die anonyme Mobberei auch auf diesen Blog überzuspringen, worauf ich den folgenden Beitrag schrieb, der hier noch einmal zitiert wird.
„Hier im Irland-Blog kann jeder seine Meinung frei äußern und unsere Einträge kommentieren. Wir sind allerdings der Meinung, dass diese Freiheit dort endet, wo sie die Freiheit anderer beeinträchtigt. Es ist in diesem Blog möglich, anonym zu kommentieren. Wir ermöglichen dies für all diejenigen, die es bislang zu kompliziert finden, sich eine Online-Identität zuzulegen. Wir bitten im Kommentarfeld darum, dass die „Anonymen“ ihre Kommentare mit dem eigenen Namen unterzeichnen. Denn zur Freiheit der Meinung gehört untrennbar die Pflicht, dieser Meinung einen erkennbaren Absender zuzuordnen. Die Wirklichkeit ist eine andere: Viele Nutzer lieben die dunklen Nischen der Internet-Existenz. Im Schutz der Anonymität bewegen sie sich sicher, selbstbewusst, oft großmäulig … meist aber so, wie sie Face-to-Face oder auf offener Straße niemals auftreten würden. Sie sondern wortstark „Meinung“ ab, ohne sich dazu zu bekennen und ohne dafür Verantwortung zu übernehmen. Im wirklichen Leben nennt man das Feigheit. Die Anonymen im Internet spielen gerne mit Identitäten, schlüpfen in phantasierte Rollen, verbergen sich hinter scheinidentitäts-stiftenden Kunstfiguren (Avataren) und nehmen Namen aus einstigen Lieblings-TV-Serien an. Kennt Ihr zum Beispiel Cosmo Kramer? Hinter der virtuellen Seinfeld-Figur, die im Irlandforum stets überlegen besserwisserisch „Rat-Schläge“ austeilt, steckt ein Mensch, den man im wirklichen Leben in seinem kleinen deutsch-irischen Alltag im County Galway wohl nicht wiedererkennen würde. Immerhin hat sich „Cosmo“ schon auf eine virtuelle Figur festgelegt, anstatt gänzlich anyonym zu agieren. Aktueller Nachtrag: Cosmo Kramer heißt jetzt nur noch Cosmo-Punkt und versucht sich erfolgreich in Mäßigung. Kennt ihr vielleicht auch den wilden Nenad in seinen vielen virtuellen Häutungen oder all die anderen Doppel- und Tripel-Trolle, denen es enormen Spaß macht, andere im Irlandforum vorzuführen und Diskussionen gezielt an die Wand zu fahren? Die Parallelwelt des Internet wird gerne als Abbild der realen Welt bezeichnet. Tatsächlich aber unterschiedet sie sich in vielem und verändert die „reale Welt“ nach ihren eigenen Regeln. Die Gier des ins Internet drängenden Kommerzkapitals hat beispielsweise den Schutz geistigen Eigentums fast komplett ausgehöhlt. Um möglichst viele Nutzer auf Webangebote zu ziehen, wurden ihnen die Inhalte 15 Jahre lang bereitwillig kostenlos zum Konsum vorgeworfen und damit grandios entwertet (Die Krise der Zeitungen spricht eine deutliche Sprache). Die gefräßigen Digitalscanner von Google beschädigen das Urheberrecht massiv und bedrohen die Existenz von Buchautoren und Verlagen weltweit. Millionen Menschen laden sich kostenlos und doch illegal Musik und Filme auf ihre Rechner und eignen sich damit auf Kosten der Kreativen an, was ihnen nicht zusteht.
Genauso hat das wilde Streben nach Online-Nutzern und Reichweite für weitgehende Akzeptanz der Anonymität in Online-Diskussionen gesorgt. Zumindest nehmen es selbst Qualitätsangbote von Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen hin, dass Nutzer anonym und ohne Preisgabe des Namens in ihren Foren mitdiskutieren. Vor zehn Jahren, und zum Teil noch heute, verweigerten dieselben Verlage anonymen Leserbriefschreibern zu Recht den Weg in ihre Blätter.
Die Unkultur der Forums-Disussionen anonymer virtueller Existenzen folgt eigenen Gesetzen: Wie leicht es ist, selbst halbgare Gedanken abzusondern, wenn man nicht fürchten muss, beim Wort genommen zu werden; wie traumhaft einfach, einen anderen zu verunglimpfen, ein bisschen rufzumorden, hinterrücks zu mobben oder ihm mal eben ungestraft ans virtuelle Bein zu pinkeln – wenn man keine Konsequenzen fürchten muss. Nutzer, die sich offen zu erkennen geben, sind systematisch im Nachteil. Sie sind in der asymmetrischen Kommunikation mit den getarnten Anonymen leicht angreifbar und verletzbar.
Oft allerdings feuert die vermeintliche Freiheit zur Meinung ohne Pflicht zur Verantwortung voll auf die Online-Foren und ihre Mitglieder zurück. Die Debatten verkommen schnell zu zynischen Schaugefechten, aus denen sich wohlmeinende und offen diskursfreudige Mitglieder längst zurückgezogen haben. Das Feld gehört dann den Anonymen, die sich auf ihre virtuelle Lufthohheit im Forum etwas einbilden, in Wirklichkeit aber heimlichen Puffgängern oder lichtscheuen Darkroom-Kunden gleichen, bestenfalls Pubertierenden, die im Schutz der Nacht Wahlplakate mit Parolen beschmieren.
Diese „Feigheit 2.0“ beschädigt unser Zusammenleben. Sie untergräbt den offenen Diskurs. Sie zerstört Vertrauen. Diese Feigheit zu bekämpfen, die Anonymität zu bannen und Offenheit und Vertrauen an ihre Stelle zu setzen, muss deshalb allen Inhalteanbietern im Internet zur Aufgabe gemacht werden. Auch wenn wir davon noch weit entfernt sind: Es könnte durchaus sein, dass gute und funktionierenden Diskussionforen der Zukunft die Anonymität als prägendes Strukturmerkmal nicht akzeptieren werden.
Fangen wir einfach selber damit an: Jeder kann sich seine eigene Meinung leisten und mit seinem Namen dazu stehen. Es ist gut, dass wir dieses Recht in Anspruch nehmen können und wir alle müssen es verteidigen, indem wir es ausüben: Denn eine Meinung ohne den Menschen dazu, der sie verantwortlich vertritt, ist nichts wert. Nichts. Und worüber man nicht reden will, darüber kann man schweigen.Abschließend noch einmal die Bitte an alle „Anonymen“: Steht zu eurer Meinung, setzt wenigstens euren vollen Namen (den richtigen Vor- und Nachnamen) unter eure Kommentare. Den Missbrauch können wir damit nicht ausschließen. Auch werden wir die Namen nie und nimmer - wie einmal unterstellt wurde - für das Marketing benutzen. Es ist schlichtweg der Versuch, auf einer kleinen Diskussionsinsel im uferlosen Internet fair und verantwortungsvoll miteinander umzugehen. Jeder kann für sich irgendwo anfangen, mit kleinen Schritten die große Kultur oder Unkultur zu verändern. Wer nun argumentiert, die Anonymität im Netz muss sein, um sich vor Big Brother Google oder dem Zugriff von Staat und Arbeitgeber zu schützen, dem sei erwidert: Dieser Schutz beginnt woanders, manifestiert sich anders und äußert sich anders. Den Originalbeitrag lesen Sie hier: http://irland-erleben.blogspot.com/2010/01/das-wort-zum-sonntag-die-anonymitat-und.html Dieser Beitrag wurde uns freundlicherweise vom Autor Markus Bäuchle aus Irland zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.
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