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Russland Literatur Hintergrundbericht
Skandal-Roman vom Kreml-Chefideologen
Nahe Null
Wladislaw Surkow unter Pseudonym Nathan Dubrowitzky
Redaktion: Ulrich Schmidt / maiak.info
Eingestellt am  05.02.2010 Aktualitätsende 14.02.2010
Sie dürfen diesen Text mit Nennung des Autors und von maiak.info honorarfrei vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen.
Zürich/gc. Der Chefideologe von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew schreibt „gangsta fiction“: Wladislaw Surkow veröffentlichte unter dem Pseudonym Nathan Dubrowitzky einen aufsehenerregenden Roman mit dem Titel „Nahe Null“, der ein düsteres Bild des postkommunistischen Russland malt und dessen Missstände schonungslos beschreibt. Der neueste Coup des Mannes, der für die Imagekampagnen des Kremls verantwortlich ist?

Der erste stellvertretende Leiter der  russischen Präsidialverwaltung  Wladislaw Surkow gilt als Chefideologe der Regierungen Putin und Medwedew. Seinen einflussreichen Posten erhielt er nach einer höchst wechselhaften Karriere, die auf der offiziellen Website des Kremls allerdings nur bruchstückhaft wiedergegeben ist.

Mit keinem Wort erwähnt wird etwa seine halbtschetschenische Herkunft oder seine Aktivität als Spion in Ungarn während des Militärdienstes in den 1980er-Jahren. In den 1990er-Jahren war er in führender Stellung bei der Bank „Menatep“ tätig, die dem seit 2005 inhaftierten Oligarchen  Michail Chodorkowski gehörte.

Der Kopf hinter Russlands „Futurisierung“
Seit 1999 arbeitet Wladislaw Surkow bei der mächtigen  russischen Präsidialverwaltung, die eine Reihe von Schattenministerien dirigiert. Er ist für die wichtigsten Imagekampagnen des Kremls verantwortlich.

Am meisten Aufsehen erregten dabei die regierungsfreundlichen Jugendorganisationen  „Gemeinsamer Weg“ (Iduschtschije Wmeste) und  „Die Unsrigen“ (Naschi): 2002 wurden  Wladimir Sorokins „pornographische Romane“ in eine gigantische Toilette vor dem Bolschoi-Theater geworfen, 2005 feierten 60.000 junge Russen in einer sorgfältig inszenierten Massendemonstration den sechzigsten Jahrestag des Siegs über Hitlerdeutschland, 2007 nahmen Aktivisten den Platz des geräumten sowjetischen Rotarmisten-Denkmals in Tallinn ein.

Wladislaw Surkow hält sich bei solchen Aktionen im Hintergrund und tritt nur äußerst selten vor die Medien. Immerhin beschrieb Surkow am 27. Oktober 2009 seine Vision für Russland in einem Interview mit der Zeitschrift  „Itogi“. Unter dem Stichwort der „Futurisierung“ forderte er die Schaffung eines „besonderen kulturellen und psychologischen Klimas“, das einen neuen „zivilisatorischen Trend“ ermöglichen solle.

Allerdings sei diese Aufgabe sehr schwierig zu bewältigen, weil Russland nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch mentalitätsmäßig ein „Rohstoff-Land“ sei.

Deshalb gebe es auch noch keine hinreichende Nachfrage nach kultureller und sozialer Innovation. Für Russland sei aber die geforderte Modernisierung nicht einfach eine Aufgabe unter anderen; es gehe hier vielmehr um Leben oder Tod. Nur ein konkurrenzfähiges Russland könne sich auf dem internationalen Parkett behaupten.

Düsteres Bild des postkommunistischen Russland
Wladislaw Surkow greift immer wieder zu höchst unkonventionellen Mitteln, um sein ambitiöses Innovationsprojekt ins Werk zu setzen. Dazu gehört seit diesem Sommer auch der Einsatz von Literatur als Polittechnologie. Ende Juni 2009 erschien unter dem Pseudonym Nathan Dubrowitzky ein aufsehenerregender Roman mit dem Titel „Nahe Null“.

Die literarischen Qualitäten sind beachtlich, sowohl die Komposition als auch der Stil des Textes verraten einen geübten Verfasser.

Der Roman entwirft ein düsteres Bild des postkommunistischen Russland und zählt die Missstände schonungslos auf: „Bestechung, Schmiergeldzahlungen, Auftragsmorde, Schutzorganisationen, staatliche Investitionen in Ehefrauen, Schwager und Nichten; die Vermietung von Machtorganen an respektable Schlitzohren und Emporkömmlinge mit Beziehungen; der Handel mit Ämtern, Orden, Auszeichnungen, Titeln; Kontrolle über die Nachfolge; käufliche Rechtssprechung, einträglicher Patriotismus.“

Inbegriff der Demoralisierung der russischen Gesellschaft
Ebenso deplorabel wie der Hintergrund ist der Charakter des Protagonisten: Jegor Samochodow tritt in den mafiosen Bruderbund des „Schwarzen Buches“ ein, der sein Geld mit Copyright-Piraterie, Verwertung von nichtdeklarierten Auflagen und Ghostwriting für politische Schwergewichte verdient. Als Aufnahmebedingung muss er einen Mord begehen, den er ohne mit der Wimper zu zucken ausführt. Er lebt geschieden von seiner Frau und ist auch ausserstande, seine eigene Tochter zu lieben.

Seine Sexpartnerin unterscheidet sich „von einer Gummipuppe nur dadurch, dass sie nicht aus Gummi ist“. Sie steht im „Süden“ Russlands als Schauspielerin vor der Kamera und wird auf der Leinwand so realistisch vergewaltigt und ermordet, dass Jegor ein Verbrechen vermutet. Im „Süden“ sucht er den brutalen Regisseur auf, der als Inbegriff der totalen Demoralisierung der russischen Gesellschaft gelten darf.

Der Roman endet in einer unerwarteten Volte: Möglicherweise erweist sich das gesamte Geschehen nur als Horrorvision des Protagonisten, der seine Verbrechen im Schlaf begangen hat. Immer wieder taucht dabei als ästhetisches Vorbild  Vladimir Nabokovs später Roman „Transparent Things“ (1972, dt. „Durchsichtige Dinge“) auf, in dem die Grenzen zwischen Traum und Bewusstsein, zwischen Fiktion und Realität bewusst verwischt werden.

Surkow streute gezielt Gerüchte
Wladislaw Surkow hatte gezielt das Gerücht gestreut, er selber sei der Autor dieser „gangsta fiction“, die ihren im Untertitel gemachten Genre-Anspruch durch den extensiven Gebrauch von Gossen- und Gangster-Slang einlöst. Die russische Presse rätselte monatelang über die Autorschaft des überaus erfolgreichen Romans, der nur 112 Seiten umfasst. Als wichtigstes Indiz für Surkow wurde gewertet, dass das verwendete Pseudonym auf den Namen seiner zweiten Frau Natalja Dubrowitzkaja anspielt.

Ende September veröffentlichte Surkow selbst eine kritische Rezension des Romans, in der er „Nahe Null“ als Befreiungsschlag einer unlesbar gewordenen literarischen Postmoderne deutete. Der Held sei „ein sehr schlechter Mensch, der sehr gerne besser werden würde, aber nicht kann und deshalb leidet“. Der Autor habe ganz klar nichts zu sagen. Deshalb kaspere er nur herum. Der Roman sei „gewissermassen auf einem Einschlagpapier geschrieben, in das eine kalte, volle Null eingepackt ist“. Der Roman „Nahe Null“ werde in naher Zukunft als das erkannt werden, was er in der Tat sei – nichts.

Surkow behauptete damals noch, er habe den Text nicht verfasst. Am 11. November liess der russische Kult-Schriftsteller  Wiktor Jerofejew endlich die Katze aus dem Sack und verriet beiläufig in einem Interview der „Literaturnaja gaseta“, Surkow habe diesen „bemerkenswerten Roman“ in der Tat geschrieben. Er besitze ein von Wladislaw Surkow persönlich signiertes Exemplar von „Nahe Null“. Surkow selbst mochte seine Autorschaft noch nicht bestätigen:

„Wenn ich irgendwo etwas hineingeschrieben habe, heisst das noch nicht, dass ich es auch geschrieben habe.“

Russland braucht freie, verantwortungsbewusste und kluge Menschen
Worin besteht das Ziel dieser geschickt angelegten literarischen Mystifikation? Der Schlüssel findet sich im letzten Absatz des Romans, der die Lesart zulässt, die Schilderung der brutalen Morde, Vergewaltigungen, Überfälle und Erpressungen sei nur ein böser Alptraum des Protagonisten: „Alle waren lebendig. Alle sind gut. Alles kann nochmals beginnen. Alles kann wieder eingerenkt werden.“

Der Roman wird so erkennbar als Teil einer Imagekampagne für Russland, die in Tonlage und Stoßrichtung genau zu Medwedews selbstkritischer Rede zur Lage der Nation passt. Am 12. November 2009 kündigte der Präsident vor der vereinigten Legislative und Exekutive einen Mentalitätswandel des Regierungsprogramms an:

„Statt wirrer, auf Nostalgie und Vorurteilen beruhender Aktivitäten werden wir eine Politik betreiben, die sich an pragmatischen Zielen orientiert.“ Russland müsse seine „chronische Rückständigkeit“ überwinden und „grundlegend modernisiert“ werden. Einen besonderen Akzent legte Mewedew dabei auf den Faktor Mensch. Russland brauche eine „Gesellschaft von freien, verantwortungsbewussten und klugen Menschen“.

Neugestaltung der russischen Mentalität
Genau diese Veränderung in der russischen Mentalität strebt auch Wladislaw Surkow an. Sein Rezept ist eine Politik der kleinen Schritte: „Es wäre natürlich gut, wenn man mit Betrug, Heuchelei, Feigheit, Schadenfreude, Neid und Gier aufhören würde. Aber das ist für später, man kann nicht alles auf einmal haben. Aber – kein Mord und keine Brutalität. Das ist nicht so schwierig. Ich glaubte zum Beispiel, dass man ohne Pistole kein Geld verdienen kann. Es ist aber nicht so, man kann es auch ohne verdienen, und auch Macht kann man erhalten, ohne jemanden umzubringen. Es geht, es geht.“

Dieser Aufruf ist eine literarisierte Form von Surkows Neugestaltung der russischen Mentalität. Vor diesem Hintergrund erhält auch Wladislaw Surkows negative Selbstrezension einen polittechnologischen Sinn: Wenn die russische Gesellschaft in naher Zukunft die in „Nahe Null“ beschriebenen Missstände überwunden haben wird, dann ist auch die literarische Mission der „gangsta fiction“ erfüllt und der Text des Romans fällt als überflüssige Größe aus der Rechnung.

Den Originalbeitrag lesen Sie hier: http://www.maiak.info/wladislaw-surkow-gangsta-fiction-russland

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