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Russland Kultur Hintergrundbericht
Autoren aus Russland an der Leipziger Buchmesse 2010
Wir glauben heute an Gott und Putin
Die Mehrheit der russischen Bevölkerung wünsche gar keine Freiheit
Redaktion: Julia Schatte / maiak.info
Eingestellt am  08.04.2010 Aktualitätsende 17.04.2010
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Zürich/gc. Die Autoren aus Russland fetzten sich auf der Leipziger Buchmesse 2010 derart, dass Beobachter konstantierten: Kontroversen geglückt – Dialog gescheitert. Die Literatur hat in Russland die aufklärerische Aufgabe der größtenteils staatlich kontrollierten nationalen Massenmedien übernommen. Schriftsteller können heute in Russland alles schreiben und sind damit unterschiedlich glücklich. Während die einen klagen, dass sich trotzdem nichts ändere, sind die anderen zufrieden, in einem freien Land zu leben.

Mit einer spannenden Vielfalt an Lesungen und Diskussionen präsentierten sich russische Schriftsteller und Publizisten an der  Leipziger Buchmesse 2010  - darunter der Schriftsteller und Chefredakteur der  „Literaturnaja Gazeta“  Juri Poljakow, der Publizist Alexander Archangelski mit seinem autobiographischen Roman „1962“ und Wjatscheslaw Kuprijanow mit „Der Bär tanzt“.

Die junge Generation vertraten Autoren wie Sergei Minajew mit „Seelenkalt“, Ildar Abusjarow mit „Dschingis-Roman“, Dmitri Gluchowski mit seinem Science-Fiction Bestseller “Metro 2034“ und Natalja Kljutscharowa mit dem Roman „Endstation Russland“ sowie einem Essay zum Thema „Krise! Welche Krise?“.

Die Krimiautorin Tatjana Ustinowa, die den im Rowohlt Verlag erschienenen Roman „Stirb, Brüderchen, stirb“ vorstellen sollte und Alexander Kabakow, der in seinem Buch „Moskauer Märchen“ deutsche Mythen und Märchen auf das Leben im heutigen Moskau projiziert, waren trotz Ankündigung nicht angereist.

Kontroversen geglückt – Dialog gescheitert
Geplant waren Diskussionen zu verschiedenen Literaturgenres, zu Übersetzungsproblemen vom Russischen ins Deutsche sowie zu historischen Themen. Scheinbar ohne wirkliches Konzept wurden einige von ihnen zur Farce und mehr einer persönlichen Auseinandersetzung der Podiumsteilnehmer, denn zu informativen Veranstaltungen. Die Autoren vertraten vehement ihre verschiedenen politischen und literarischen Positionen – und vergassen dabei den Dialog mit dem deutschen Publikum.

So kamen schon am ersten Messetag in der Diskussion zum Verhältnis von „elitärer“ und Massenliteratur die Teilnehmer weit vom Thema ab, als  Juri Poljakow und Holt Meyer (Professor für Slawistische Literaturwissenschaft in Erfurt) sich darüber stritten, ob man den abwesenden russischen Kritiker, Publizisten und führenden Vertreter des Konzeptualismus  Lew Rubinstein als Dichter bezeichnen könnte - und ob man Gedichte seiner bevorzugten Dichter spontan rezitieren können müsse.

Als Juri Poljakow daraufhin wütend das Podium verließ, erklärte Moderator Alexander Archangelski dem verwirrten Publikum, dass die Literatur in Russland immer noch eine so immens wichtige Rolle spiele, dass sie zu solch hitzigen Auseinandersetzungen führt. Der Großteil des Publikums bekam jedoch kaum mit, was eigentlich der Stein des Anstoßes war, so dass der Abend für die meisten Besucher sicher unterhaltsam, aber kaum bereichernd war.

Auch Fragen aus dem Publikum wurden wenig hilfreich beantwortet: Die Frage, welche Bücher deutschsprachige Leser aus der russischen Literatur wählen sollten, um einen Eindruck vom russischen Leben zu bekommen, beantworteten die Diskussionsteilnehmer spontan mit  Lew Tolstois „Anna Karenina“. Der gute Tolstoi feiert dieses Jahr seinen 100. Todestag …

Streit um die russische Nationalhymne
In einer Diskussion zum Umgang russischer und deutscher Autoren mit dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Auseinandersetzung fort, als der Slawistikprofessor Holt Meyer das Stück „Ein Monat in Dachau“ von  Wladimir Sorokin als Beispiel für eine literarische Umsetzung des deutschen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nannte.

Später kritisierte er die Wiederaufnahme der sowjetischen Nationalhymne (von 1944 bis 1991) als solche der Russischen Föderation (ab 2000) mit einem „neuen, wenig poetischen Text“ von  Sergei Michalkow, der schon 1944 und 1977 (als er Stalin rausstreichen musste) die Texte der sowjetischen Hymne gedichtet hatte.

Daraufhin meinte Juri Poljakow, dass es eine Krankheit der deutschen Russisten wäre, sich mit denjenigen russischen Schriftstellern am meisten zu befassen, die am schlechtesten schrieben. Vielleicht weil die „Guten“ schwieriger zu (be-)greifen wären. Und er kritisierte, eine solche Podiumsdiskussion wäre auch nicht der Ort, um nationale Symbolika zu besprechen.

Umgekehrt verließ die Hälfte des Publikums den Saal während Juri Poljakows Lesung aus seinem neuen Roman „Der Gipshornist“. Poljakow verbrachte nämlich eine ganze Stunde damit, seine Werke in chronologischer Reihenfolge zu preisen, verlor sich immer wieder in eigenen biographischen Details und mokierte sich über die Humorlosigkeit einer deutschen Übersetzerin. Das Publikum konnte den letzten Vorwurf nicht überprüfen - „Der Gipshornist“ wurde noch gar nicht übersetzt und Poljakow sprach bei der Lesung nur Russisch.

Junge russische Autoren zwischen beißendem Zynismus und arabesker Erzählkunst
Deutlich aufgeschlossener präsentierten sich die jüngeren Autoren aus Russland. Ein aufmerksames Publikum lauschte  Dmitri Gluchowski, der 2009 bereits aus seinem sehr erfolgreichen postapokalyptischen Roman „Metro 2033“ auf der Buchmesse vorlas und dieses Jahr „Metro 2034“ sowie ein gleichnamiges Computerspiel vorstellte – laut Gluchowski „ein  Shooter, aber ein lyrisch-philosophischer“.

Konsumkritisch, lakonisch und zynisch-kühl erscheint Sergei Minajews Debütroman „Seelenkalt“, der im Russischen den Untertitel „Die Geschichte eines wahren Menschen“ trägt. Desillusioniert beschreibt er die Generation der heute 40jährigen in Russland, die in der Sowjetzeit aufgewachsen, jedoch in der postsowjetischen Zeit erwachsen geworden sind - „die so knallig ins Leben gestartet sind und es so grandios verschwendet haben“.

Nachdenklich las Natalja Kljutscharewa aus ihrem Roman „Endstation Russland“, in dem der Petersburger Student Nikita nach der Trennung von seiner Freundin Jasja mit dem Zug quer durch Russland fährt und dabei eine Menge skurriler Lebensgeschichten seiner Mitreisenden hört.

Verlust des Sprechens oder der Fähigkeit zum Nachdenkens?
Mit gesellschaftskritischem Anspruch, aber vielleicht ein wenig zu didaktisch, konstatiert Natalja Kljutscharewa in ihrem Essay „Krise! Welche Krise?“ eine Krise der Macht, der Verantwortung und der Menschlichkeit im heutigen Russland.

Die Mehrheit der russischen Bevölkerung wünsche gar keine Freiheit. Sie sei mit der derzeitigen Situation zufrieden, in der die Antworten vorgegeben und kein Nachdenken erwünscht sei, so wie in der sowjetischen Zeit. Vom Staat heute Gerechtigkeit zu fordern, sei ungefähr so effektiv, wie mit geballten Fäusten einer Lokomotive nachzurennen.

Fragwürdig ist allerdings Kljutscharewa harte Diagnose einer  „Atrophie des Denkens“ beim russischen Menschen. Vielleicht ist der von ihr diagnostizierte Verlust der Fähigkeit des Nachdenkens mehr ein Verlust des (öffentlichen) Sprechens und Äußerns?

Ildar Abusjarow, der als muslimischer Tatare in einer russischen Umgebung aufwuchs und heute bei Moskau lebt, wundert sich über seinen literarischen Erfolg, da er sich selbst nicht als Mainstream-Autor sieht. Tatsächlich erscheint seine ungewöhnliche, mit zahlreichen Metaphern und Assoziationen versehene Erzählweise im „Dschingis-Roman“ fast orientalisch-arabesk. Laut seiner Übersetzerin Hannelore Umbreit wählt Abusjarow oft einen exotisch-stilisierten Hintergrund, um die Liebe in den Mittelpunkt zu stellen.

Deutsch-russische Kulturunterschiede und Selbstbilder
Die Übersetzer Andreas Tretner und Gabriele Leupold bestätigen eine Affinität des deutschen Lesers zu den komplexen Menschenbildern in der russischen Klassik und ein grosses Interesse an Erinnerungsliteratur wie  Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“.

Ohne die Öffnung historischer Archive in Russland wären Bücher wie Karl Schlögels „Moskau 1937“, das letztes Jahr mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, nicht möglich gewesen. Brisant ist dies besonders auch im Kontext der Kontroversen zu den riesigen Stalin-Plakaten, die zum Tag des Sieges am 9. Mai 2010 in Moskau platziert werden sollen.

Nach Meinung der Lektorin für ausländische Belletristik beim Münchner Carl Hanser Verlag, Tatjana Michaelis, gibt es zu Russland jedoch einen großen Kulturunterschied zu überbrücken. Die kritisch hinterfragte gesellschaftliche Rolle der Literatur im Allgemeinen, die Situation der Pressefreiheit, der Menschenrechte und Tendenzen der politischen Entwicklung zeigen dennoch ein reges und lebendiges Interesse am Leben im heutigen Russland.

Bei allen Veranstaltungen fiel auf, dass die von den russischen Protagonisten vorgetragenen Texte und Meinungen in den Publikumsfragen sehr oft in einen gesellschaftspolitischen Kontext gesetzt wurden.

Umso spannender waren die spontanen Antworten der Autoren, etwa Ildar Abusjarows Eindruck, dass die Literatur heute wieder die informative respektive aufklärerische Aufgabe der Medien übernimmt oder Natalja Kljutscharewas Kritik, dass man heute in Russland alles schreiben könne, es würde aber nichts ändern oder bewegen. Oder Dmitri Gluchowskis Feststellung, in Russland gäbe es eine Tradition der Schaffung von Utopien, die sich später als Antiutopien erweisen, und heute glaube man an Gott und an Putin. Wie erwartet, hielt Juri Poljakow dagegen, denn „Gott sei Dank, leben wir heute in einem freien Land“.

Den Originalbeitrag lesen Sie hier: http://www.maiak.info/russland-literatur-leipziger-buchmesse-2010

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